"Struwwelpeter" am Gymnasium Sonthofen
Nachdem unsere Vorjahresproduktion „Kick me. Kate!“ sowohl bei den drei Aufführungen im März in der Markthalle als auch bei den Theatertagen der bayerischen Gymnasien in Deggendorf im Juli 2009 sehr gut angekommen war, herrschte nach den Ferien große Spannung in der Truppe, was als nächstes auf dem Programm stehen würde. Leider gab es aber erst einmal lange Gesichter, denn unser ursprüngliches Vorhaben, eine dramatisierte Version von Patrik Süskinds Bestseller „Das Parfüm“ auf die Bühne zu bringen, scheiterte am Autor, der uns dazu keine Einwilligung erteilt hatte. So musste Regisseur Andreas Gross das in den Ferien erstellte Skript in der Schublade verschwinden lassen und binnen kürzester Zeit etwas Neues herbeizaubern.
Die Junkoper „Struwwelpeter“, die am Wiener Burgtheater das Kinderbuch des Arztes Heinrich Hofmann aus dem 19. Jahrhundert aufmöbelte und gegen den Strich bürstete, sorgte gerade für Furore in der Presse und inspirierte auch uns, über eine Dramatisierung des Stoffes nachzudenken. Von Anfang an war klar, dass es keine 1:1-Umsetzung der Vorlage geben konnte – dazu war die in den Geschichten vorherrschende Moral in Form einer teilweise dick aufgetragenen Gruselpädagogik zu kindlich und zu wenig zeitgemäß. Aber wenn man sich Figuren wie Friederich den Wüterich, Paulinchen, Konrad Daumenlutscher, Zappelphilipp und wie sie alle heißen einmal näher anschaut, stellt sich automatisch die Frage, wie die „Bösewichter“ eigentlich zu dem wurden, was sie sind. Von hier aus erschloss sich uns ein Zugang zu dem Kinderbuch, der es uns erlaubte, die Geschichten der Struwwelkids nicht nur kritisch zu hinterfragen, sondern auch weiter zu denken und zu aktualisieren.
Und so beginnt unser „Struwwelpeter“ auf dem Marktplatz einer typisch deutschen Kleinstadt. Das gehobene Bürgertum flaniert, ergeht sich in Begrüßungsritualen und tauscht Gefälligkeiten. Mitten in die Szene platzen die als Rocker, Punks und Hippies aufgestylten Mitglieder der Struwwelgang, die ihren Frontman als Statue auf einem Wägelchen hereinschieben. Das Bürgertum ist pikiert bis empört und entlädt seine Abscheu über die Underdogs stellvertretend an ihrem Anführer. Zum gleichnamigen Song wird Struwwelpeter in einem Schreittanz geschmäht und verspottet. Die Beamerbilder von Karl Marx bis hin zu Rudi Dutschke und den Beatles suggerieren, dass es dabei nicht nur um den ungekämmten und -gewaschenen Lausebengel geht, sondern um Struwwelpeter als Ikone der Antibürgerlichkeit und der Protestkultur schlechthin. Als solcher erwacht Struwwelpeter am Ende des Songs zum Leben und schmäht nun seinerseits die Vertreter des Bürgertums als geld- und raffgierige Spießer – diesmal im Verbund mit Bildern von namhaften und durch Spekulantentum und Geldgier ins Gerede gekommenen Vertretern des deutschen Finanz- und Börsenwesens. Damit ist der Trennstrich zwischen dem Establishment und den Unangepassten gezogen, der das Stück als roter Faden durchläuft, und an dem dann die Struwwelpeter-Figuren und ihre Geschichten aufgereiht sind. Ob Friederich der Wüterich alias Fritz the Blitz, der nach einer Zwangsadoption bei einer kleinbürgerlichen Familie das patriarchalische Rollenmodell und die Sittenstrenge der deutschen Provinz regelrecht eingebläut bekommt, ob Paulinchen oder Connie Daumenlutscher, die als von den Eltern vernachlässigte und wohlstandsverwahrloste Einzelkinder auf dumme Gedanken kommen, ob Suppen-Suse oder Zappelphilipp – stets lassen sich in den Biografien der Kinder auch restriktive oder repressive Zwänge von Seiten der Eltern oder der Gesellschaft insgesamt ausmachen, die als Erklärungsursache für das jeweilige Fehlverhalten gedeutet werden können. Dazu gesellen sich noch die beiden „Aussteiger“ Flying Robert und Hannele-guck-in-die Luft, die bewusst eigene und von der Norm abweichende Wege gehen. Zumindest für den letzten Fall – neben der Geschichte von den bösen Mädchen der einzige, der „gut“ ausgeht – tun sich hier nach unserer Deutung ganz neue Möglichkeiten auf. Hannele mutiert von der selbstversponnenen Träumerin zur Visionärin und Verkünderin einer besseren Welt, die am Ende alle mit ihrer Strahlkraft in Bann zieht und zum Mitsingen bringt (was in der Markthalle allerdings erst in der letzten Vorstellung ganz klappte). Als zweites versöhnendes Element und leicht ironisches i-Tüpfelchen führt ein auf der Beamerleinwand eingeblendetes Fotoalbum die Biografien der Struwwelkids noch bis zu einer Traumkarriere oder zumindest einem versöhnlichen Ende fort.
Soweit der „Plot“, der nicht zuletzt durch seine gesellschaftskritische Botschaft eine tragende Säule unseres Stückes darstellt. Eine weitere wichtige Rolle kommt natürlich auch dieses Jahr wieder den Songs im „Struwwelpeter“ zu – getextet und komponiert von Ernst Heckel und Thomas Schmidt. Von unseren Songwritern stammen fantastische und mitreißende Text- und Tonkunstwerke, welche unser Stück maßgeblich bereichern und prägen. Fast jede Szene unserer Collage enthält einen Liedtext, der entweder in die Thematik der betreffenden Szene einführt, sie gedanklich weiterspinnt oder kommentiert. Einige der Szenen, wie die Geschichte von Connie Daumenlutscher oder vom Fliegenden Robert, bestehen sogar zum Großteil aus den jeweiligen Liedern und ihrer tänzerischen Interpretation. Ein stimmgewaltiger Chor und mehrere herausragende Solisten sorgen für eine adäquate Umsetzung der Vorlagen.
Songs wollen aber nicht nur gesungen werden – sie verlangen auch nach Bewegung und Tanz. Dieser Aufgabe widmete sich wieder mit viel Hingabe Erika Hauber. Zusammen mit den Tanztutoren aus der Q11 und K12 erarbeitete sie zu jedem Song eine aufwändige und inspirative Choreographie, ohne die unser Stück um viele Glanzpunkte ärmer wäre. Glanzlichter setzte dieses Jahr aber auch wieder die Technik mit unserem altbewährten Team, das unter der Leitung von Ernst Heckel und Markus Erdmann nicht nur eine brillante Wiedergabe der vielen effektvollen Beamerbilder gewährleistete, sondern mithilfe modernster Technik im Bereich von Tonqualität und Lichteffekten Maßstäbe setzte. Zum Gelingen der Show trugen aber auch unsere vielen ehrenamtlichen Helfer bei – neben den freiwilligen Saalhelfern und Kartenverkäufern, den Aufbau- und Aufräumdiensten aus der 10b und Q11 unter der Leitung von Erika Hauber, die zusammen mit Fritz Hauber für die professionelle filmische und fotografische Dokumentation unseres Stückes sorgte, an vorderster Front Christine Gross, die als Multi-Tasking-Managerin u. a. in den Bereichen Schminken und Maske, Catering, Einkauf und Kostüme tätig war, sowie Maria Eggensberger, die unsere inzwischen eingespielte Catering-Crew hauptamtlich anführte.
Die Aufführungen am 23., 24. und 25. März in der an allen drei Abenden so gut wie ausverkauften Markthalle gerieten schließlich – wie schon der „Vorlauf“ mit einer Reihe ausgewählter Szenen aus unserem Stück im Hotel Allgäu-Stern Ende Dezember – zu einem vollen Erfolg. Entscheidenden Anteil daran hatten natürlich die Schauspieler selbst, die wieder einmal genau zum richtigen Zeitpunkt all das gaben, was sie im vorhergegangenen langwierigen Probenprozess nicht immer alle gezeigt hatten: Volles Engagement, Teamgeist, Bühnenpräsenz, Textsicherheit, Spielfreude und Gesangsstärke. Aus der großen Reihe von achtbaren bis hervorragenden Rollenumsetzungen und –anverwandlungen des 36-köpfigen Ensembles aus der 9. bis 13. Jahrgangsstufe verdienen besonders die „Conferencièrges“ beider Besetzungen, welche das Publikum als Moderatorinnen mit Bravour durch die Collage führten, ohne es durch die langen Sprechpassagen zu ermüden, besondere Erwähnung - aber natürlich auch die vielen tollen Einzelleistungen unter den Haupt- und Nebendarstellern, die hier nicht alle namentlich aufgeführt werden können. Es ist immer wieder ein Erfolgserlebnis der besonderen Art nicht nur für die Schauspieler selbst, sondern auch für Regie und Publikum, wenn über die Jahre hinweg gereifte Talente plötzlich zu kleinen oder großen Bühnenstars mutieren. Kaum irgendwo sonst an unserer Institution wird einem Talentschulung und Persönlichkeitsbildung so lebendig und hautnah nachvollziehbar vor Augen geführt wie in solchen Fällen.
Damit sind wir auch schon beim Ausblick angelangt. Wir alle, die dem Schultheater auf die eine oder andere Weise verbunden sind, hoffen, dass trotz des zunehmenden Lern- und Leistungsdrucks speziell in der Oberstufe des Gymnasiums auch künftig solche Projekte noch möglich sind und nicht dem Diktat der Stundenbudgetierung oder anderen rein pragmatischen Erwägungen zum Opfer fallen. Es wäre ein Verlust nicht nur für das Schultheater, sondern auch für das Gymnasium selbst.